Was uns die Corona Krise täglich lehrt

Irgendwann ist die Corona-Krise vorbei. Was wird davon bleiben? Wie wird sich die Welt verändern? Einige Thesen dazu.
Was uns die Corona Krise täglich lehrt
Peter Röthlisberger, Mitinhaber 50PLUS-Medien GmbH, über die Lehren für die Zukunft.

Einige Auswirkungen der Corona-Krise spüren wir jetzt schon. Andere erst in Zukunft:

  • Mehr Inland, weniger Ausland: Industrie und Regierung werden die Fabrikation von staatspoltisch und gesundheitspolitisch sensiblen Gütern nicht mehr unreflektiert nach China delegieren: Die Schweiz und Deutschland werden autarker. Schutzmasken, Medikamente, Beatmungsgeräte werden wieder vermehrt von der heimischen Industrie hergestellt. Nicht alle, aber mehr als heute. Die Globalisierung ist nicht zu Ende und soll es auch nicht sein. Aber etwas mehr Inland und etwas weniger Import werden die Regierungen beider Länder anstreben.
     
  • Rückbesinnung: Die Generationen X, Y und Z erfahren, was ihre Eltern und Grosseltern als allgemeine Erfahrung kannten. Der Verkehr auf der Strasse, auf der Schiene und in der Luft machte nur einen Bruchteil des heutigen Verkehrsaufkommens aus. Das Wort Mobilität war noch nicht erfunden. Wir erleben eine Reise in einer Zeitmaschine. Diese Erfahrung wird das Verhalten der Entscheidungsträger in Zukunft prägen. Was uns zur nächsten These führt.
     
  • Rücksicht: Die Luft in den Strassen ist reiner, der Himmel blauer, der Lärm geringer. Eine 65plus-Dame in der Abflugschneise des Zürcher Flughafens ist sich nach 10 Tagen extrem reduzierten Flugverkehrs sicher, dass sie freier atmen kann. Naturschutz im globalen Labor. Die Regierungen aller Länder tun sich leichter mit Massnahmen, die dazu dienen, die Klimaziele zu erreichen.
     
  • Anders reisen: Wir werden weniger mit dem Flugzeug unterwegs sein. Und wenn, dann mit schlechtem Gewissen. Unbedacht einen Städtetripp machen, wo es auch mit dem Zug ginge, wird als schlechte Gewohnheit der 10er-Jahre im kollektiven Gedächtnis abgelegt werden. Wir werden umsetzen, was wir immer verdrängt hatten: Viele geschäftliche Flugreisen hätten sich mit einer Videokonferenz erledigen lassen. Klar war es immer cool, auf Geschäftskosten einen Tapetenwechsel zu erleben – aber meist unnötig.
     
  • Arbeitswelt: Die arbeitende Gesellschaft hat sich in neu definierte Gruppen aufgeteilt. In Angestellte mit einem krisensicheren Job (in der Verwaltung, im Gesundheitswesen, im Bildungswesen), in Angestellte mit Kurzarbeit, in Angestellte und Selbständige im Home Office, in Selbständige ohne Aufträge und Existenzängste. Die Liste ist unvollständig. In dieser Krise werden die KMUs für ihren Unternehmergeist bestraft. Besser dran sind die Angestellten. Was nach der Krise bleiben wird: Home Office wird sich als Arbeitsmodell durchsetzen.
     
  • Konsum: Das Ziel von unterem Mittelstand bis zu Superreichen war in den letzten Jahrzehnten nicht sich selbst und die Familie durchzubringen, sondern das eigene Dasein zu optimieren. Noch exotischere Ferien, noch teurere Täschchen, teure Autos, Einfamilienhaus.Vor allem den Peers der eigenen Anspruchsgruppe wollte man imponieren. Vor allem die heutigen 20- bis 30-Jährigen machen nun die Erfahrung, dass es auch einen anderen als den hedonistischen Weg gibt. Nicht mehr jeden Sonntag auswärts brunchen, nicht jeden zweiten Abend im Restaurant essen. Immer schneller, immer grösser wird nicht der einzge Weg sein. Die neue Bescheidenheit wird sexy. Entschleunigung auch.
     
  • Medien: So viel Beachtung fanden die klassischen, glaubwürdigen Marken schon lange nicht mehr. Das Informationsbedürfnis ist gross und wird nicht mehr nur in der eigenen Social-Media-Bubble befriedigt. Umso bitterer, dass parallel dazu die Werbeeinnahmen einbrechen. So werden betriebswirtschaftliche Gewissheiten auf den Kopf gestellt. Grosserfolg auf dem Lesermarkt, Darben auf dem Anzeigenmarkt. Das haben wir beim Blick am Abend leider während seiner gesamten Existenz erlebt. Wer den Tod des Prints seit Jahren prophezeit hatte, bekam bisher nie recht. Ein bisschen wahrer wird die Prognose in der Corona-Krise aber schon.
     
  • Vorsorge: Sparen gilt nicht mehr als altmodisch. Die Kinder der Nachkriegsgeneration machten nie die Erfahrung, dass es nötig sein könnte, etwas aus der Seite zu haben. Wozu auch? Kein Krieg, keine ernsthafte Krise in Sicht. Über Menschen mit Notvorrat im Keller wurde gespottet. Die Menschen werden wohl ab jetzt eher ein paar Kilo Mehl, Zucker und Pasta vorrätig haben – und das völlig überschätzte WC-Papier. Zu den Krisengewinnern könnte übrigens auch das Schweizer Weltunternehmen Geberit mit ihren Dusch-WC-Closomaten gehören.
     
  • Digitalisierung: Onlineshops und Heimlieferservice sind die Krisengewinner. Bisher eine Domäne der Jungen, haben auch ganz viele 50plus entdeckt, dass man auch aus der Ferne und mit Kreditkarten einkaufen kann. Home Schooling wird von den Lehrerinnen und Lehrern als neue Unterrichtsform akzeptiert. Von den Eltern weniger.  
     
  • Isolation: Man erträgt mehr als man glaubt. Viele hätten es nicht für möglich gehalten, dass man auch ohne die Verlockungen des Marktes und der Eventindustrie überleben kann. Lesen erlebt ein Revival. Die Menschen werden nach der Krise besser essen als davor. Noch nie wurden so viele neue Koch- und Backrezepte ausprobiert. Die Kompetenz in der Küche erlebt einen Schub. Wer bisher getrieben war von einer Unruhe, alles zu verpassen, hatte in der Krise eine ruhigere Zeit. Und kann vielleicht etwas davon mitnehmen, wenn sich das Karussell wieder auf Volltouren dreht.
     
  • Fürsorge: Die Gesellschaft ist kein Soloprogramm für Individualisten. Gemeinsam ist man stark. Was hilft, wenn alle nach finanzieller Unterstützung rufen. Von den Errungenschaften des Sozialstaates zu profitieren, ist für viele Unternehmer eine neue Erfahrung. Neoliberale Modelle werden es schwerer haben, nachdem alle gesehen haben, zu was der Staat in der Krise fähig ist. Wenn man ihn vorher nicht totgespart hat.
     
  • Gesundheitswesen: Spitalschliessungen werden überdacht; Unternehmensberater-Empfehlungen, viele regionale zugunsten von Grossspitälern zu schliessen, neu beurteilt. Das Projekt der elektronischen Patientendossiers wird angesichts der aktuellen Erfahrungen beschleunigt. Kantone und der Bund weisen in der Corona-Krise unterschiedliche Ansteckungszahlen aus, weil die Ärzte Faxe schicken, statt ein Patientendossier am Computer zu bearbeiten. Grossrisiken wird mehr Beachtung geschickt, den Komplementär- und Naturmedizin-Modellen weniger.
     
  • Politik: Die Wichtigkeit der Gewaltentrennung ist erkannt. Weniger in der Schweiz als in anderen Ländern lässt sich beobachten, wie schnell die Exekutive in der Krise weitreichende Befugnisse beansprucht und die Legislative dabei ausschliesst. Die politschen Parteien waren in der Krise erstaunlich einig. Der äussere Feind schweisst zusammen. Partikularinteressen werden bedient: Die SVP freut sich über die Grenzschliessungen, die Grünen über die Verschnaufpause für die Umwelt, die CVP über die grosse Familienzeit. Die Parteipräsidenten sind in der Krise gar nicht präsent. Die Schweiz war nie schlecht darin, gemeinsame Lösungen zu finden. Und wurde darin nochmals bestätigt.
     
  • Aussehen: Mut zu mehr grau im Haar wird sich durchsetzen. Weil man in der Krise gute Erfahrungen damit machen konnte. Da niemand mehr Coiffeurdienstleistungen anbieten kann, werden wir die neue Wahrhaftigkeit bei den Haarfarben erleben. Die Haare der Schweizerinnen und Schweizer werden dunkler. Denn nur 2 Prozent der Weltbevölkerung sind natürlich blond. Alle anderen lassen sich die Haare färben: die Goldblonden, die Platinblonden, die Aschblonden werden seltener.
     
  • Freundschaften: Als intimste Begrüssungsformel unter Freunden galt in den letzten Jahrzehnte ein Kuss links, einer rechts, einer links. In den letzten Jahren wurde er zunehmend vom Umarmen abgelöst – auch unter Männern. Gute Freunde umarmt man, Kolleginnen und Kollegen begrüsst man mit Küsschen. Was passiert mit dieser eben erst dazugewonnenen mediterranen Körperlichkeit nach Ende der Krise? Jetzt, da schon ein Händedruck zu viel Nähe bedeutet? Wir werden sehen.
     
  • Beziehung: Geht man gemeinsam durch schwierige Zeiten, kann das die Liebe festigen. Dann wird auch mehr geheiratet danach. Stellt sich aber heraus, dass die Beziehung sowieso kriselte, ist die Corona-Krise der Trigger, das Drama zu beenden. Was das Geschäft der Scheidungsanwälte wiederum ankurbelt. Will man aber eher bewahren was war, drängt sich während der gemeinsamen Quarantäne zuhause folgender Satz von Birgit Schmid in der «NZZ» auf: «Darum hier ein einziger Rat, um als Paar zu überleben. Denken Sie daran: Beide haben recht.»

Leider könnte es auch noch eine andere – bittere – Pointe geben: Nichts verändert sich, nichts bleibt hängen. Die Menschen werden wieder reisen wie zuvor, für sich alleine schauen wie zuvor. Die Menschheit hat ein kurzes Gedächtnis. Wird die eigene Gestaltungsfreiheit oder das finanzielle Wohlergehen tangiert, ist schnell fertig mit Solidarität und Umweltschutz. Hoffen wir mal, dass es nicht so kommt.

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