Sprachliche Reisen ins Fremde

Wann sind Sie das letzte Mal in ein fremdes Land verreist? In Zeiten von Corona erscheint diese Frage ziemlich überflüssig oder gar provokativ…
Sprachliche Reisen ins Fremde
Sprachliche Reisen ins Fremde (Bild Pisit Heng on Unsplash)

Es scheint uns lange her zu sein, dass wir in andere Länder verreisen und fremde Kulturen besuchen konnten, und Reisen werden wohl auch nicht so schnell wieder möglich sein. Man könnte meinen, dass somit auch das Beherrschen anderer Sprachen, die uns die Kommunikation in anderen Ländern ermöglicht, weniger wichtig wird.

Gerne möchte ich Sie vom Gegenteil überzeugen: Fremdsprachen zu erlernen und zu sprechen ist gerade in Coronazeiten sehr gewinnbringend – es ermöglicht uns die mentale Reise in fremde Länder und ist gleichzeitig ein sehr effektives Fitnesszentrum für unser Gehirn.

Die Sprache ist eine der komplexesten geistigen Fähigkeiten, die das perfekte Zusammenspiel verschiedenster kognitiver Prozesse erfordert. Bei über 90 % der Bevölkerung wird die Sprache hauptsächlich in der linken Gehirnhälfte verarbeitet. Dabei sind die bekanntesten an Sprachprozessen beteiligen Strukturen das Broca-Areal im linken Frontallappen und das Wernicke-Areal im linken Schläfenlappen.

Während das Broca-Areal hauptsächlich für die Sprachproduktion zuständig ist, ermöglicht das Wernicke-Areal u.a. das Sprachverständnis. Schaut man aber in das Gehirn eines Menschen, der sich mit einer Sprache und ihren Wörtern und Bedeutungen befasst, sind nicht nur diese Hirnregionen, sondern ein weitläufiges Netzwerk an Arealen in beiden Hirnhälften aktiv.

Wenn also schon die Muttersprache mit so komplexen Prozessen verbunden ist, die unser ganzes Gehirn involvieren, muss das Erlernen einer Fremdsprache unser Gehirn erst recht aktivieren. Und wie es das tut! Das Gehirn ist beim Erlernen und bei der Anwendung einer Fremdsprache ganzheitlich gefordert und angeregt, da Neues verstanden, memorisiert und mit Bekanntem verglichen wird. 

Diese Prozesse sind für unser Denkorgan ein tolles Training - und das geht nicht spurlos am ihm vorbei. Die Forschung zeigt eine Zunahme der weissen und grauen Substanz (welche die meisten Neuronen und Synapsen des Gehirns enthält) beim Erlernen einer Sprache sowie erstaunliche Wirkungen auf verschiedene Facetten unserer geistigen Leistungsfähigkeit. Menschen, die mehrere Sprachen beherrschen, sind mental flexibler und können schneller Entscheidungen treffen. Zudem zeigen Studien eindrücklich, wie das Beherrschen mehrerer Sprachen den Alterungsprozessen des Gehirns entgegenwirkt.

Zugegeben, eine Sprache zu lernen kann ziemlich anstrengend sein und Geduld erfordern. Gerade deshalb ist es ja so wertvoll für unser Gehirn – es aktiviert und stimuliert die Verbindungen von Neuronen, und das Gehirn muss zwischen verschiedenen Sprachen hin und her wechseln. Durch diese Art der mentalen Gymnastik werden geistige Reserven aufgebaut, d.h. das Gehirn hat bessere Ausgleichsmechanismen und kann damit degenerativen Krankheiten wie Demenz oder Alzheimer entgegenwirken.

Falls Sie sich jetzt denken, dass es für das Sprachenlernen für Sie zu spät ist, möchte ich diese Haltung herausfordern, denn die Lernfähigkeit hat kein Verfalldatum. Bekanntlich bleibt unser Gehirn bis ins hohe Alter plastisch und so können auch im Alter gute Erfolge beim Sprachlernen erzielen werden.

Obwohl bei vielen das Lernen etwas verlangsamt ist, bringt das Alter auch einige Lern-Vorteile: Man kann auf zurückliegende Kenntnisse einer Sprache zurückgreifen, hat viel mehr Erfahrungen, mit welchen Querverbindungen hergestellt und neue Wörter verknüpfen werden können, und verfügt meist über ein Repertoire an Gedächtnis- und Lernstrategien, die man anwenden kann. Zudem ist man zeitlich eher flexibel.

Wenn Sie Mühe haben, sich zu überwinden, dann tun Sie sich mit Ihrem/r Partner/in oder einem/r Bekannten zusammen, unterhalten Sie sich in der Fremdsprache, schauen Sie Filme (ohne Untertitel!) oder lesen Sie ein Buch in der Fremdsprache. Statt sich zu viel vorzunehmen, starten Sie am besten mit kleinen, konkreten Zielen, wie beispielsweise täglich wenige Minuten oder täglich ein paar neue Vokabeln zu lernen. Für dieses Jahr habe ich mir beispielsweise zum Ziel gesetzt, jeden Tag eine neue Chinesisch-Vokabel zu lernen.

Erlernen, Vertiefen oder Ausüben einer Fremdsprache verhelfen unserem Gehirn langfristig zu mehr Fitness und Beweglichkeit – und das Resultat kann andere und uns begeistern. Wir lernen durch die Sprache eine Kultur besser kennen und können uns mental in fremde Gebiete begeben. Somit können Sie ruhig eine neue Sprache lernen, auch wenn Sie kein konkretes Reiseziel als Grund haben – tun Sie es Ihrem Gehirn zuliebe.

Dr. Barbara Studer ist Neuropsychologin, Dozentin an der Universität Bern und Initiantin der Plattform www.hirncoach.ch

 


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