Smarte Lebenshilfen für Seniorinnen und Senioren

Die Toilette misst den Blutzucker. In einem Projekt entwickeln Studenten technische Systeme für ältere Menschen, die wirklich hilfreich sind.
Digitale Hilfe, smarte Lebenshilfe, Unterstützung
Sie werden staunen, was dieser Kamin digital so drauf hat! (Bild: Fotolia)

Der mit Sensoren versehene Fussboden schlägt bei einem Sturz Alarm. Die multifunktionale Toilette hat nicht nur eine Duschfunktion, sondern misst gleich noch Blutzucker und Puls.

Die Oberschränke in der Küche lassen sich herunterfahren und der Schlafzimmerschrank hat eine Art Paternosterfunktion, die die Kleider rotieren lässt.

Das kommt an: "Senioren, die bereits hier waren, sind begeistert", sagt Alexander Karl. Der 35-Jährige ist der Laboringenieur in der gerade eröffneten Forschungswohnung für Ambient Assisted Living der Hochschule Kempten.

Hier soll untersucht werden, wie Konzepte und technische Assistenzsysteme - kurz AAL - älteren Menschen helfen können, möglichst lange in den eigenen vier Wänden zu wohnen. Trotz körperlicher Einschränkungen.

Dazu haben die Wissenschaftler modernste Technik in Bad, Küche, Schlaf- und Wohnzimmer verbaut. Gerade mal 55 Quadratmeter gross ist die Keimzelle für Hightech in der Pflege.

Doch das in Bayern einzigartige Projekt könnte Strahlkraft weit über den Freistaat hinaus haben und Schwaben zur Leitregion in Sachen digitaler Pflege machen.

Umzug ins teure Heim verzögert

Denn fundierte Erkenntnisse über Produkte und Zielgruppe sind sehr gefragt. Die Zahlen sprechen für sich: Laut Statistischem Bundesamt wird im Jahr 2060 bereits jeder Dritte über 65 Jahre alt sein.

Allein in Bayern, so die Prognose, werden in Jahr 2030 bis zu 3,4 Millionen Menschen Pflege benötigen. Hilfssysteme könnten den Alltag der Senioren und Angehörigen wesentlich erleichtern - und damit einen Umzug ins teure Heim um Jahre verzögern.

Ein Milliardengeschäft angesichts des rasanten demografischen Wandels und des akuten Pflegenotstands. Könnte man meinen. Doch während Smart Living in den eigenen vier Wänden boomt, kommt der Mark für altersgerechte Assistenzsysteme nur schwer in Schwung.

Die Probleme? Sind vielschichtig und nach Ansicht des Verbands der Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE) in der Struktur des Gesundheitsmarktes begründet.

Wer verordnet, bewilligt und installiert die Assistenzsysteme? Erfüllen sie die Erwartungen hinsichtlich Funktionalität und Finanzierbarkeit? Wer garantiert Qualität und Zukunftssicherheit? Und wer haftet für möglicherweise auftretende Fehlfunktionen?

"Das sind alles Fragen, die noch nicht abschliessend geklärt sind", sagt Iris Straszewski vom VDE. Das bestätigt auch Petra Friedrich, Professorin für Ambient Assisted Living und wissenschaftliche Leiterin des vom Bayerischen Kultusministerium finanzierten Projekts in Kempten.

Dass die Innovationen noch nicht massentauglich seien, liege an vielen Faktoren, häufig auch schlichtweg an der Alltagstauglichkeit: "Die Produkte sind zwar für Senioren gemacht, wurden aber meist nicht von ihnen getestet. Oft sind sie zu klein, zu technisch, zu nutzerunfreundlich", erklärt Friedrich.

Dass soll sich durch die Arbeit in der Forschungs- und Lehrwohnung ändern. Das AAL Living Lab, wie die Hochschule das Appartement nennt, ist in einer Seniorenanlage der Baugenossenschaft BSG Allgäu im Stadtteil Sankt Mang untergebracht.

"Hier können die Studenten der Fakultäten Elektrotechnik sowie Soziales und Gesundheit mitten in der Zielgruppe forschen und die Senioren gleich als Probanden mit einbinden", sagt Friedrich.

Usability-Studien sollen durchgeführt werden. Prototypen - wie das Dusch-WC mit Sensorik für Vitalwerte - getestet, neue Ideen entwickelt und in Kooperation mit der Industrie zur Marktreife gebracht werden.

Die Ausstattung des Appartements wird dabei stets dem aktuellen Stand der Technik angepasst. Bald soll der Kühlschrank die Milch automatisch nachbestellen oder der Fussboden bei nächtlicher Bewegung den Weg zum Bad automatisch beleuchten.

"Wir wollen auch der Frage nachgehen, wie die Wohnung mit dem Umfeld verknüpft werden kann" - etwa mit dem Mini-Laden in der Wohnanlage, einem Shuttleservice oder dem Hausarzt.

"Klar ist, dass sich nicht alles in der Praxis bewähren wird und vieles noch verbessert werden muss", sagt Karl.

Ein Tisch mit Griffmulden erleichtert das Aufstehen

Schon jetzt sind viele Eigenentwicklungen in der Wohnung verbaut: der Tisch mit Griffmulden, der das Aufstehen erleichtert, oder das biodynamische Licht, das sich von der Helligkeit dem Tagesverlauf anpasst.

"Die meisten Lösungen gibt es eben noch nicht bei OBI, auch wir müssen oft suchen und mit Handwerkern zusammenarbeiten", sagt die Professorin. Roboter, die das Wasser reichen, sucht man aber vergeblich.

"Die testen wir zwar an der Hochschule, aber noch nicht in der Wohnung." Wobei: Um die Wollmäuse unterm Pflegebett kümmert sich schon jetzt ein Saugroboter. Friedrich und Karl sind sich bewusst, dass es noch viele Barrieren auf dem Weg zu einer grösseren Akzeptanz der Hilfssysteme gibt.

"Unser Ziel ist es nicht, den Mensch sozial abzuschotten, sondern ihn zu entlasten", betont Karl. Technik werde auch in Zukunft nicht die Pflegekräfte ersetzen, sondern dem Personal im Idealfall mehr Zeit für menschliche Zuwendung schaffen. Doch die Ängste und Sorgen gelte es ernst zu nehmen.

"Darum suchen wir den Austausch mit allen relevanten Akteuren." Angehörige, Pflegekräfte, Architekten, Gesundheitsexperten, Dienstleister und vor allem die Senioren selbst sollen vorbeischauen können und sich informieren.


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