Lebenslektionen: Was wir erst im Alter verstehen

Warum braucht es erst die lange Reise ins Alter, ehe Lebenslektionen ihre Früchte reifen lassen?
Lebenslektionen: Was wir erst im Alter verstehen
(Bild Jill Heyer on Unsplash)

Planbar sind sie nicht, die Lebenslektionen

Jedes Leben läuft anders. Es fängt mit uneinheitlichen Startbedingungen an, wird von persönlichen Entscheidungen gelenkt, aber auch mit vielen Zufällen konfrontiert. Dabei zieht jeder seine eigenen Schlüsse aus dem, was ihm begegnet. Das alles bildet eine Mischung, die den menschlichen Charakter um so einzigartiger macht, je älter sein Träger wird. Kann es unter diesen Bedingungen Lebenslektionen überhaupt geben? Dieselben Ereignisse müssen doch auf unterschiedliche Persönlichkeiten auch uneinheitliche Lektionen bedeuten? Beispielsweise den einen immer tiefer im Groll versinken lassen, während der andere immer entschlossener an den Genüssen des Lebens festhält, um ja nichts zu verpassen? Klar, eine Lebenslektion ist nicht die gleiche für alle, aber das ändert nichts daran, dass es Lektionen überhaupt gibt, die einen gewissen Einfluss ausüben. Sie können sogar vor vielen Jahren schon erteilt worden sein, aber wurden damals noch nicht verstanden. Entweder, weil es an Erfahrung mangelte, sie zu verinnerlichen, oder weil sich einfach die nächsten Ereignisse darüber schoben, keine Zeit für die Reflexion lassend.

Das Alter lässt mehrere Ereignisse kombinieren zu einer Lektion

Wenn es einem erst Jahre oder Jahrzehnte später wie Schuppen von den Augen fällt und eine Lebenslektion nachträglich verstanden wird, muss es das Alter sein, das jemanden anders auf das Ereignis schauen lässt als damals, als es passierte. Neue Faktoren sind mittlerweile hinzugekommen, die die Reflexion über das Ereignis auf eine neue Stufe heben. Das Ereignis wird aus einem abweichenden Blickwinkel sehen. Vielleicht müssen auch erst mehrere einzelne Erinnerungen zusammenkommen, um in der Summe eine Lebenslektion auszulösen, die es wert ist, memoriert zu werden. Das braucht Zeit. Zeit, um diese Einzelereignisse überhaupt zu sammeln, und nochmals Zeit, um sie sich auf dem staubigen Boden der Lebenserinnerungen zu setzen, damit man mit dem Finger im Staub zeichnen könnte. Die Jugend macht aus, dass sie die Macht zu haben glaubt, alles lenken zu können und sich einen eigenen Weg zu brechen. Ein Leben voller Versuche, gegen Wände aller Art anzurennen, gehört dazu, das zu überwinden. Schön, wenn man dabei auch seine Siege hat und sich feiern kann, aber in der Summe wird die Erkenntnis sein, dass das jugendliche Ungestüm früher oder später an seine Grenzen anlangt und durch etwas gebrochen werden muss. Sehr wahrscheinlich jedenfalls. Bewundernswert, wer sich auch in den letzten Lebensjahren noch etwas von diesem Aufbruchsgeist, von grossen Plänen erhalten hat. Sieht vielleicht nicht so recht nach einer Lebenslektion aus, ist aber auch eine: die nämlich, niemals aufzugeben.

Lange verdrängt, aber darum nicht tot

Wenn es nicht eine Summe von Erfahrungen ist, die zusammen eine Lebenslektion erkennen lassen, dann hat der Anlass, der einer Lektion würdig wäre, Sie nicht beizeiten erwischt. Der Mensch ist ein Künstler darin, unangenehme Dinge zu ignorieren, zu verdrängen, zu vergessen. Es werden Schutzmechanismen entwickelt, sich einen Schock oder eine grosse Trauer zu ersparen. Und das Leben geht weiter seinen gewohnten Gang. Das bedeutet nicht, dass das potenziell gefährliche Erlebnis wirklich vergessen wäre, es lauert im Untergrund, sozusagen in Isoliermaterial eingepackt und auf den Tag wartend, wenn Sie mutig genug sein werden, es wieder hervorzuholen. Das kann Jahrzehnte dauern, aber es ist nie zu spät, sich einem alten Gespenst zu stellen und Grossreinemachen zu veranstalten. Erst dann kann die Lebenslektion aus dieser Auseinandersetzung resultieren. Das ist nicht verkehrt. In jungen Jahren waren Sie womöglich gar nicht in der Lage, die Sache zu verdauen. Geschweige denn, sie in ein schlüssiges Gesamtbild zu integrieren.

Nur wenige Worte? Die Lektion kann dennoch gross sein

Lebensweisheit ist keine automatische Errungenschaft, die sich bei jedem nach xx Jahren einstellen müsste. Manche Leute, befragt nach Lebenslektionen und ihrer Philosophie, werden mit banalen Sprüchen antworten, die man am liebsten gleich wieder vergessen möchte, weil es für diese Leute nicht weiter gereicht hat als bis zu Plattitüden. Aber es gibt auch Erkenntnisse, die unkompliziert sein können und sich nach Platittüden anhören, aber trotzdem wahr sein können. Also Sprüche wie "Die Liebe besiegt alles" oder "Der Weg ist das Ziel". Eine Lebenslektion wird nicht erst dadurch eine Lebenslektion, indem Sie tausend Worte benötigen, um sie in Worte zu fassen. Weisheit wird nicht in Worten gezählt. Ein langes Leben gibt Gedankengänge frei, für die früher keine Zeit war oder Zeit an sich war keine Grösse, die gefürchtet wurde. Weil ihr Verrinnen weniger einengend schien wie jetzt. Man konnte sich noch Optionen offenhalten, Dinge auf später verschieben, sich einbilden, es gäbe noch Gelegenheiten für einen anderen Ansatz. Erst, wenn klar geworden ist, dass diese Optionen vorüber sind, kann eine Lebenslektion als letztes Urteil akzeptiert werden.


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