Vom Kraftgewinn und der Muskelmasse

Neulich wurde mir eine Frage aus einem Bodybuilder-Forum zugestellt: „Warum legt der Kieser so viel Wert auf die Kraft und nicht auf die Muskelmasse?“
Vom Kraftgewinn und der Muskelmasse
Meister der Muskeln: Werner Kieser

Dies schreibt Werner Kieser (1940 bis 2021).

Interessant ist die Frage, weil sie die Verkennung simpler biologischer Sachverhalte offenbart. Glücklicherweise ist ein bedeutender Zuwachs an Muskelmasse stets und zwangsläufig mit einem Zuwachs an Kraft verbunden, schreibt Werner Kieser (1940-2021).

Wäre dem nicht so, blieben nur die Nachteile einer erhöhten Muskelmasse.

Dass es solche gibt, scheint zumindest dem Frager nicht bewusst zu sein. Eine erhöhte Muskelmasse bedeutet ein vergrössertes Blut- und Sauerstoffversorgungsgebiet und ein erhöhter Grundumsatz an Energie.

Mit anderen Worten: Ein extrem muskulöser Mensch braucht im Ruhezustand so viel Energie, wie ein Mensch mit normaler Muskelmasse in Bewegung.

Toni Nett, der frühere deutsche Nationaltrainer der Leichtathleten, berichtet über die ersten drei Gewinner einer "Mr. World" Meisterschaft: "Diese drei Leute besuchten uns später und wurden in der Klinik (Universität Köln, Prof. Knipping) ausgetestet. Sie waren zwar in der Lage, eine gewaltige Belastung von 500 Watt 1 ½ Minuten bewältigen zu können, wo ein anderer kaum die Drehkurbel bewegen kann; es war ihnen aber nicht möglich, eine Belastung von nur 90 Watt, die selbst ein Untrainierter 15 Minuten und länger ohne weiteres schafft, über 5 Minuten durchzuhalten." (Nett, S. 27)

Am anderen Ende der Skala befindet sich der Mensch, der extremen Ausdauerleistungen ausgesetzt ist, beispielsweise Marathon, Triathlon und so weiter: ein riesiges Herz auf zwei dünnen Beinen. Werden dem Körper Ausdauerleistungen dieser Dimension abverlangt, wird er alles, was nicht benötigt wird dem Energiestoffwechsel zuführen; d.h. er verdaut sich selbst.

Das betrifft die sogenannt "schnellen" (weissen) Muskelfasern die nur für kurzdauernde, relativ hohe Krafteinsätze benötigt werden, das Fett und die Knochen. Ausdauertraining wirkt katabol, d.h. abbauend.

Natürlich ist die Veranlagung zur einen oder anderen Seite ausschlaggebend, ob ein Individuum überhaupt in die deren Nähe gelangt. Das Ausdauer-"Ideal" zu erreichen ist jedoch weniger von den Genen abhängig, da die katabolen Prozesse bei jeder Veranlagung einsetzen, sobald der Energiehaushalt sie fordert.

Das soll kein Votum gegen den Ausdauersport oder die Kunstform des Bodybuilding sein, sondern lediglich ein Hinweis auf simple biologische Tatsachen. Extreme physiologische Anpassungen führen stets auch Nachteile mit sich.

Von diesen zu wissen, kann nicht schaden, führt es doch zu einer rationaleren Einstellung gegenüber der persönlichen Eignung und Neigung.

Quelle: Nett, T. und Jonath, U. "Kraftübungen zur Konditionsarbeit". Berlin, Bartels & Wernitz, 1960


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