Erinnerungen sind leicht manipulierbar

Dass das Gedächtnis manchmal trügt, erfährt jeder von uns. Das hat mit Instabilität, aber auch mit der Ökonomie des Gehirns zu tun.
Erinnerungen sind leicht manipulierbar
War das Wetter wirklich so schön auf der Reise? Unser Gedächtnis zeigt sich flexibel.

Unheimlicher ist, dass sich Erinnerungen auch gezielt verfälschen lassen, schreibt Kate Jeffery.

Früher hielten wir Erinnerungen für wahrheitsgemässe Aufzeichnungen vergangener Ereignisse, wie eine Videoaufnahme im Kopf, die bei Bedarf jederzeit abgespielt werden kann.

Natürlich war uns klar, dass unser Gedächtnis sehr viel anfälliger und unvollständiger ist als ein echtes Video: Wir vergessen Dinge, und viele Erlebnisse werden erst gar nicht gespeichert.

Wenn wir unsere Erinnerungen jedoch abermals betrachten, sind wir uns sicher, dass das, woran wir uns erinnern, wirklich passiert ist. Tatsächlich basiert unserer gesamtes Rechtswesen auf diesem Prinzip.

Im letzten Jahrhundert haben drei wissenschaftliche Entdeckungen dieses Bild verändert: Zwei dieser Entdeckungen datieren schon weiter zurück, die dritte ist neueren Ursprungs.

Vor längerer Zeit erfuhren wir, dass das Gedächtnis nicht etwa wie eine Aufzeichnung, sondern wie eine Rekonstruktion funktioniert. Wir erinnern uns nicht eins zu eins an Ereignisse, sondern setzen sie in unserem Gedächtnis wieder zusammen.

Dabei können wichtige Teile des ursprünglichen Erlebnisses durch andere Informationen ersetzt werden: Es war nicht Georgina, die Sie an jenem Tag rein zufällig trafen, sondern Julia; es war nicht in Monte Carlo, sondern in Cannes; es war damals nicht sonnig, sondern bewölkt - später regnete es sogar, erinnern Sie sich?

Bei Videos geschieht so etwas nicht; die Bänder leiern aus, Passagen werden übersprungen oder Informationen gehen verloren, aber nie werden Dinge hinzuerfunden.

Labile Konstrukte

Seit den 1960er Jahren ist ausserdem bekannt, dass der blosse Akt einer Gedächtnisreaktivierung eine Erinnerung kurzzeitig anfällig oder "labil" macht. In diesem labilen Zustand ist eine Erinnerung für Störungen anfällig und wird dann unter Umständen in veränderter Form erneut abgespeichert.

Unter Laborbedingungen wird diese Änderung üblicherweise durch einen das Gedächtnis beeinträchtigenden Wirkstoff, etwa einen Proteinsynthesehemmer, ausgelöst.

Wir wissen, dass Medikamente dieser Art die Gedächtnisbildung beeinflussen können; überraschenderweise vermögen sie jedoch auch einer Erinnerung zu schaden, nachdem sie sich gebildet hat. Das ist aber noch nicht alles.

Vor kurzem wurde bewiesen, dass Erinnerungen nicht nur anfällig sind, wenn sie reaktiviert werden, sondern dass sie sich sogar gezielt verändern lassen. Mithilfe der verblüffenden neuen molekulargenetischen Techniken, die in den letzten 30 Jahren entwickelt worden sind, können wir erkennen, welche neuronale Untergruppe an der Codierung eines Ereignisses beteiligt war.

Als Nächstes können wir einige dieser Neuronen in Experimenten reaktivieren, damit das Versuchstier sich (nach unserer Ansicht) an das jeweilige Ereignis erinnert. Wissenschaftern ist es gelungen, Erinnerungen während dieser Reaktivierung zu beeinflussen, so dass am Ende etwas anderes als die ursprüngliche Erinnerung herauskommt.

Bis anhin wurde nur auf emotionaler Ebene eine Beeinflussung vorgenommen - in diesem Fall wird beispielsweise eine zunächst neutrale Erinnerung an einen Ort zu einer positiven oder eine zunächst positive zu einer negativen Erinnerung umgedeutet, damit das Tier diesen Ort entweder gezielt aufsucht oder vermeidet.

Wir sind jedoch nicht weit von dem Versuch entfernt, neue Erinnerungen ins Gedächtnis zu schreiben, was mit hoher Wahrscheinlichkeit möglich sein wird.

In der Erinnerungsküche

Warum sollten wir ein derart beunruhigendes System entwickeln? Warum kann das Gedächtnis nicht wie eine Videoaufnahme funktionieren, damit wir ihm mehr trauen können?

Wir kennen die Antwort noch nicht genau, doch die Evolution schert sich nicht um Wahrhaftigkeit - sie interessiert sich nur fürs Überleben, und normalerweise gibt es einen guten Grund für auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Konstruktionsmerkmale.

Die Vorteile der schöpferischen Kraft des Gedächtnisses liegen auf der Hand: Es bedarf enormer Speicherkapazitäten, will man sich an jedes winzige Detail eines Erlebnisses erinnern.

Es ist sehr viel ökonomischer, wenn unsere Synapsen eine Reihe möglicher Zutaten für eine Erinnerung sammeln und jedes Ereignis einfach als Rezept abspeichern: Nehmen Sie eine Prise südfranzösischen Strand, geben Sie einen Schlag guter alter Schulfreunde hinzu, mischen Sie ein wenig Sommerwetter hinein usw.

Viele Theoretiker der Neurobiologie sind der Meinung, der labile Charakter des Gedächtnisses könne die Ausbildung eines Supergedächtnisses ermöglichen (des sogenannten semantischen Gedächtnisses) - Anhäufungen von individuellen Erinnerungen an Ereignisse, die miteinander kombiniert werden, um ein übergreifendes Wissen über die Welt zu schaffen.

Nach ein paar Besuchen am Mittelmeer wissen Sie, dass dort meistens die Sonne scheint; infolgedessen wird der merkwürdige Zufall eines grauen, bewölkten Himmels verdrängt und verschwindet nach und nach aus dem Gedächtnis.

Sie passen Ihr Verhalten also nicht an ein bestimmtes vergangenes Ereignis an, sondern an die allgemeine Lage. Deshalb wissen Sie, dass Sie Sonnencrème einpacken müssen und keinen Regenschirm, wenn Sie in die Ferien fahren.

Der fabrizierte, labile Charakter des Gedächtnisses ist gleichzeitig Grund zur Freude und zur Sorge. Es ist schon erstaunlich, dass unser Gehirn ständig unsere Vergangenheit neu gestaltet und dass die Vergangenheit nicht wirklich so ist, wie wir glauben.

Gleichzeitig ist dieser Umstand äusserst besorgniserregend, da diese konstruierte Vergangenheit aussergewöhnlich echt erscheint - fast so echt wie unsere Gegenwart - und unser Verhalten darauf basiert.

Aus diesem Grund macht ein Augenzeuge vollkommen überzeugt eine Aussage, die zur lebenslangen Inhaftierung eines Menschen führen kann, und abgesehen von Neurobiologen macht sich niemand darüber Gedanken.

Ebenso erstaunlich und zugleich besorgniserregend ist, dass wir Wissenschafter und Ärzte kurz davor stehen, das Gedächtnis bearbeiten zu können - es wird uns möglich sein, die Erinnerungen einer Person an ihr Leben selektiv zu verändern.

Mit Vorsicht zu geniessen

Das therapeutische Potenzial dieser Entwicklungen ist aufregend - stellen Sie sich nur einmal vor, Sie könnten den Schmerz einer posttraumatischen Belastungsstörung durch eine Operation reduzieren!

Solche Technologien müssen jedoch mit Vorsicht eingesetzt werden. Greifen wir in das Gehirn eines Menschen ein und ändern seine Vergangenheit, kann das auch den Menschen selbst verändern.

Man könnte jedoch argumentieren, dass der fabrizierte, labile Charakter unseres Gedächtnisses unter Umständen bedeutet, dass wir ohnehin nicht der sind, für den wir uns halten.

Kate Jeffery ist Professorin für Biopsychologie am University College London. Der obige Aufsatz wurde für www.edge.org verfasst und wird 2018 in einem Sammelband beim S.-Fischer-Verlag erscheinen. Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff.


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