SELBSTBEWUSSTSEIN
Diskriminierend: Wir wollen kein Seniorencafé
Neulich traf ich nach längerer Zeit einen Freund, der immer schwer zu erwischen ist, weil ihm eine Kommunikationsagentur mit zwei Standorten gehört, weil er zwei kleine Kinder hat und weil er ausserdem Weltreisen liebt.
Nun aber sass er mir gegenüber und war aufgebracht. Er war vor einiger Zeit sechzig geworden, und das Bezirksamt hatte mit gnadenloser Konsequenz reagiert: In seinem Briefkasten fand er die Aufforderung, sich an der "Seniorenwahl Berlin" zu beteiligen.
Das sei ja wohl kaum zu fassen, meinte er; überlegte allerdings auch, ob es möglich sei, mit Freunden aus Frankfurter Spontizeiten für diese Wahl noch eine eigene Krawallliste aufzustellen.
Da sich vor Kurzem auch meine extrem gestresste Lektorin darüber beklagt hatte, mit gerade einmal 50 plus zum Seniorencafé ihrer Kirchengemeinde eingeladen worden zu sein, fing ich an, über den Seniorenbegriff nachzudenken.
Wie man ihn auch dreht und wendet, er verheisst nichts Gutes: Er drückt den Willen der Gesellschaft aus, Menschen allein aufgrund ihres biologischen Alters weniger wichtig zu nehmen, sie an den Rand zu drängen und ihre politische Weltsicht auf Barrierefreiheit zu reduzieren.
Dass zum Beispiel die Parteien jungen Leuten eigene Tummelplätze in Form von Jugendorganisationen bieten, ist gut und richtig, denn es müssen ja wirklich nicht alle erwachsenen Parteimitglieder den gesamten politischen Lernprozess jedes Mal von Neuem mit nachvollziehen.
Unter keinen Umständen ungebeten
Aber was zum Teufel soll das spezifische Interesse von "Senioren" sein? Will man sie gettoisieren, damit sie sich, wie es sich vermeintlich für ihr Alter schickt, mit Rente, Pflege, Sterbehilfe und digitaler Krankenakte befassen?
Will man sie vor den stärkeren, härteren Jüngeren schützen? Oder die Jüngeren vor ihnen? Rente, Pflege, Sterbehilfe und die digitale Krankenakte sind Themen der ganzen Gesellschaft, ebenso wie Zuwanderung, Atomkraft, Nato-Mitgliedschaft oder Russlandpolitik Themen der ganzen Gesellschaft sind.
Menschen werden heute - Gott sei Dank - ganz anders alt als vor 50 Jahren. Sie brauchen keine Sondervertretung, erst recht nicht in Partei-Arbeitsgemeinschaften und Extraparlamenten, wo Ältere ohnehin längst die Mehrheit haben.
Eine gute Idee wäre vielleicht ein neuer Gesellschaftsvertrag: Der ganze diskriminierende Seniorenquatsch wird abgeschafft; dafür verpflichten sich ältere Menschen, nimmermehr beigefarbene Westen zu kaufen und sich unter keinen Umständen ungebeten zu anderen Leuten an den Tisch zu setzen, um dann schweigend und missbilligend deren Unterhaltung zu lauschen.