Glück im Alter
Der Jungbrunnen ist überflüssig
Von Mike Gadient
Die Bevölkerung in der Schweiz wird immer älter. Ein langes und glückliches Leben ist vielen gegönnt. 100. Geburtstage wie jener von Hanspeter Manner haben dennoch Seltenheitswert.
Drei Generationen treffen aufeinander. Hanspeter Manner feiert mit seiner Tochter Theres und seinem Urenkel Fin seinen 100. Geburtstag im Alterszentrum Dietenrain in Uster. Die Namen sind ein deutliches Indiz für die Jahrgänge. Theres Manner reicht dem jüngsten in der Runde den Nuggi. Fin ist vor drei Monaten auf die Welt gekommen. Theres seit zwei Jahren pensioniert. Bevor die Torte angeschnitten wird, sagt Hanspeter Manner: «So ein 100. Geburtstag ist unglaublich aufregend.»
Der Senior sitzt im Rollstuhl. Ihm ist bewusst, dass er körperlich und geistig abgegeben hat. Trübsal bläst er deshalb nicht. «Besuche und unterhaltsame Gespräche machen mich glücklich», sagt er und strahlt seine Tochter Theres an. Die 66-Jährige hat in Fin eine neue Lebensaufgabe erhalten. Die Momente mit ihrem Enkel allein reichen ihr aber nicht aus. Sie plant eine zweimonatige Rundreise in Brasilien und wird sich anschliessend für die Organisation Alzheimer Schweiz engagieren. «Dafür fehlte mir zuvor als Bankangestellte die Zeit.»
Gelassen im Alter
Die Manners sind das beste Beispiel dafür, dass der Ruhestand nicht langweilig ist. Es folgt eine Lebensphase, die erfüllend ist. Soziologin Hilke Brockmann sagte dazu dem «Spiegel»: «Die Alten entdecken Möglichkeiten und sind oft glücklicher als mit 30. Sie nehmen sich die Freiheit, neue Türen aufzustossen.» Brockmann forscht an der Jacobs University in Bremen am subjektiven Wohlbefinden im Alter. Die Professorin spürt bei über 65-Jährigen eine Gelassenheit. Diese entstehe, weil der Wettbewerb im Beruf oder bei der Partnerwahl mehrheitlich entfällt.
Ende 2019 machten die über 65-Jährigen fast 19 Prozent der Schweizer Bevölkerung aus. Knapp über 60 Prozent waren zwischen 20 und 64 Jahre alt, wie das Bundesamt für Statistik (BfS) mitteilt. Die Prozentzahlen werden in den nächsten Jahren weiter steigen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer liegt bei 81,9 Jahre. Frauen werden in der Regel vier Jahre älter. Das sah 1999 noch ganz anders aus: Die Lebenserwartung der Männer lag bei 76,8 Jahren und bei den Frauen bei 82,5 Jahren.
Verhalten bestimmt Lebensdauer
Die Gründe liegen einerseits im medizinischen Bereich. Andererseits achten die Menschen besser auf sich und sind zufriedener. «Zu einem erfüllten Leben gehören ein soziales Miteinander, ausreichend Schlaf und Bewegung», sagt Brockmann. Altersforscher Thomas Perls ist derselben Ansicht. Er gehört zu den weltweit führenden Forschern auf dem Gebiet der Langlebigkeit.
«Es ist relativ einfach: Wer lange lebt und dabei gesund ist, der ist lange glücklich», sagte er in einem Interview mit der «Luzerner Zeitung». Perls hat an der Universität in Boston 150 Menschen untersucht, die 110-jährig oder älter sind. Sein Fazit: «Unsere Lebensdauer wird durch unser Verhalten bestimmt.»
Theres Manner hat früh erkannt, dass es in ihren eigenen Händen liegt, ein schönes Alter zu erreichen. Sie treibt regelmässig Sport, am liebsten Pilates. Der Aufenthalt in Brasilien soll ihren Horizont erweitern. «Ich will nicht von der Vergangenheit leben. Ich will neue Geschichten schreiben.» Sie hat kein Verlangen danach, nochmals 25 Jahre jung zu sein. Ihr momentanes Leben ist reich an Möglichkeiten und Qualität. Es scheint, als ob die Generation über 65-Jähriger keinen Jungbrunnen sucht.
Gene als wichtiger Faktor
Auch Hanspeter Manner will nicht von der Quelle der ewigen Jugend trinken. Der Senior erzählt seiner Tochter von seinem Flug als Pilot der Swissair nach Rio de Janeiro. Er beschreibt die Tücken der Landebahn, als ob er gestern dort gewesen wäre. Manner ist einer von 1572 Personen in der Schweiz, die hundertjährig und älter sind.
«Ob jemand 95 oder 110 Jahre alt wird, hängt zu einem viel grösseren Teil von den Genen ab als vom Verhalten», erklärt Thomas Perls. Er weist darauf hin, dass es weltweit bislang nur zwei Menschen geschafft haben, 120 zu werden. In der Schweiz hat sich die Zahl der 100-Jährigen zwischen 1950 und 2010 verdoppelt. Seit acht Jahren ist der Wert laut BfS stabil.
Ob sie auch einmal im Alterszentrum Dietenrain ihren 100. Geburtstag feiern kann, ist Theres Manner egal. Wichtig ist ihr, dass sie wie ihr Vater glücklich bleibt. «Mein Enkelkind wird schon dafür sorgen», ist sie sich sicher. Fin Manner ist soeben in ihren Armen eingeschlafen. Er dürfte gemäss statistischer Prognose des BfS 93 Jahre alt werden.