VERGESSLICHKEIT
Das Gehirn muss vergessen können
Dies schreibt Katrin Blawat in der «Neuen Zürcher Zeitung».
Die letzten Ferien liegen wenige Wochen zurück, aber schon beginnen die Zweifel an den Erinnerungen. Wie waren die Felsen in dieser einsamen Bucht geformt? Und hiess dieser nette Kellner in der Strandbar wirklich Messi? Sosehr man es bedauern mag, dass Erinnerungen an die Ferien oder an bedeutsame Episoden im Leben mit der Zeit verblassen, so notwendig ist dieser Vorgang aus neurobiologischer Sicht.
Erst wenn Details verblassen und unwichtige Einzelheiten verloren gehen, kann unser Gehirn die Erinnerungen dauerhaft speichern. Darauf deuten zahlreiche Studien hin. Den jüngsten Beleg präsentieren Alexa Tompary und Lila Davachi von der New York University im Fachmagazin "Neuron".
Demnach reduziert das Gehirn alle Details einer neuen Erinnerung im Laufe einer Woche auf die wesentlichen Punkte. Die Erinnerungen werden auf diese Weise generalisiert. So lassen sie sich zusammen mit älteren, vergleichbaren Erinnerungen sozusagen in eine Schublade stecken. Das Gehirn sortiere die Erinnerungen in "Informations-Kategorien" ein, als ob es die Welt sinnvoll ordnen wolle, sagt Davachi.
Anlaufstelle Hippocampus
Die Forscherinnen zeigten ihren Probanden 128 Bildpaare mit jeweils einem Gegenstand, etwa einer Computertastatur oder Schwimmflossen, und eine von vier Szenerien - Strand, Wald, Stadt oder Schlafzimmer. Während dieser Lernphase sollten die Studienteilnehmer angeben, wie lebendig ihnen die Gegenstände erschienen.
Anschliessend folgten zwei Abfrage-Phasen, in denen sie abermals jeweils 64 der Gegenstände präsentiert bekamen. Sie sollten sich daran erinnern, welche der vier verschiedenen Szenerien zu dem jeweiligen Gegenstand gehörte.
Die erste dieser Abfrage-Runden fand unmittelbar nach der Lernphase statt, die zweite eine Woche später. Während des Abrufens der Erinnerungen untersuchten die Forscherinnen das neuronale Aktivierungsmuster mittels funktioneller Magentresonanztomografie (fMRT).
Besonders interessierten sie sich dabei für den Hippocampus und den medialen präfrontalen Kortex (mPFC). Aus früheren Studien ist bekannt, dass frische Erfahrungen und Informationen zunächst im Hippocampus gespeichert und von dort im Lauf der Zeit zunehmend auf verschiedene Bereiche des mPFC umverteilt werden. Dies bestätigte sich auch in dieser Studie.
Erinnerungen müssen sich erst setzen
Darüber hinaus riefen Erinnerungen an verschiedene Gegenstände, die zusammen mit der gleichen Szenerie gelernt worden waren, einander ähnliche Aktivierungsmuster in Hippocampus und mPFC hervor. Dies war aber erst nach der einwöchigen Pause der Fall - nachdem das Gehirn Zeit zum Umsortieren und somit zum Erkennen von Ähnlichkeiten gehabt hatte, erklären die Forscherinnen.
Gleichzeitig waren den Probanden die Details des Gezeigten weniger präsent als zu Beginn des Experiments. "Diese Studie erscheint sehr aufregend", sagt der Neurowissenschafter Blake Richards von der University of Toronto.
Vor drei Jahren war er aufgrund von Versuchen mit Mäusen zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Demnach ist auch aus neurowissenschaftlicher Sicht etwas dran an dem Ausdruck, dass sich eine Erinnerung oder neue Erfahrung "erst einmal setzen muss".
Doch bleibt das Gehirn während dieser Zeit nicht untätig. Vielmehr kommt es einer seiner wichtigsten Aufgaben nach: Unwichtiges von wesentlichen Inhalten zu trennen und Muster im Erlebten oder Gelernten zu erkennen. Dieses Generalisieren von Informationen sei absolut notwendig, sagt Richards.
Sonst könnten wir keine allgemeingültigen Konzepte von unserer Umwelt bilden, sondern nur einzelne, unverbundene Erinnerungen speichern. Vielleicht, spekuliert der Neurowissenschafter, bilde diese Fähigkeit zum Verallgemeinern sogar einen wesentlichen Unterschied zwischen Säugetieren und Vögeln auf der einen Seite und weniger intelligenten Tieren wie Käfern und Eidechsen auf der anderen Seite.
Details werden geopfert
Das Gehirn muss demnach einen Kompromiss finden zwischen einem guten Gedächtnis für Details und der Fähigkeit, Muster und Regelmässigkeiten in der Umwelt zu erkennen. Damit Letzteres gelingt und sich die Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Erfahrungen und Erinnerungen herausschälen, muss das Gehirn Details opfern.
Anders gesagt: Es muss vergessen. Diese These steht im Mittelpunkt eines Artikels, den Richards und sein Kollege Paul Frankland kürzlich in "Neuron" publiziert haben. Demnach ist es nicht nur hilfreich, sondern sogar notwendig, Einzelheiten zu vergessen.
Das Ziel des Gedächtnisses sei nicht, dauerhaft möglichst viele Informationen zu speichern. Vielmehr gehe es darum, gerade so viele Gedächtnisinhalte bereit zu halten, wie es braucht, um eine Entscheidung zu treffen. Dass zu viele Informationen den Blick auf das Wesentliche verstellen können, dürfte jeder schon erfahren haben.
Wenn man etwa innerhalb von zwei Stunden ein neues Smartphone kaufen möchte, muss man einen Teil der Fakten und Bewertungen, die einem ein Verkäufer oder das Internet bieten, in den Wind schlagen. Sie alle zu berücksichtigen, würde schlicht zu viel Zeit kosten, um innerhalb der gesetzten Frist eine Entscheidung zu treffen.